Agile Arbeitsweisen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Antwort auf zunehmende Komplexität, Geschwindigkeit und Unsicherheit in der Wirtschaft weltweit breite Anerkennung gefunden. Methoden wie Scrum, Kanban und DevOps versprachen mehr Flexibilität, Transparenz und Kundenorientierung – Werte, die Unternehmen im digitalen Zeitalter dringend benötigen. Doch mittlerweile mehren sich kritische Stimmen, die von der „agilen Ernüchterung“ sprechen: starre Prozesse, Überregulierung, zu viele Meetings und ein Verlust des eigentlichen agilen Geistes. Vor diesem Hintergrund steht die Diskussion um Postagilität: Ist sie eine notwendige Weiterentwicklung agiler Prinzipien – oder doch ein Indiz für das Scheitern der Agilität in der Praxis?
Ursprünglich entstand Agilität als Gegenentwurf zu schwerfälligen, planungsgetriebenen Modellen. Sie sollte die Fähigkeit von Teams erhöhen, schnell auf Veränderungen zu reagieren und iterativ Produkte zu entwickeln. Dabei waren Werte wie Offenheit, Vertrauen, Fehlerkultur und Selbstorganisation zentral.
Doch in der Umsetzung zeigen sich häufig Diskrepanzen: Agile Frameworks werden zu starren Regeln, die Teams in Bürokratien einsperren. Übermäßige Meetings und Dokumentationspflichten führen zu Frust und verringern die Effektivität. Auch die vielfältigen Anforderungen großer, komplexer und regulierter Unternehmen lassen sich nicht immer einfach mit Standard-Agilität lösen. Die Unternehmen haben Kontrollmechanismen, wie Steering Boards, verpflichtende Mittelfristplanungen und umfangreiche Berichtspflichten etabliert, die häufig den agilen Freiraum einschränken, schnelle Entscheidungen verlangsamen und Teams in rigide Genehmigungsprozesse zwängen – wodurch die ursprüngliche Flexibilität und Selbstorganisation agiler Ansätze unterlaufen wird. Insbesondere bei komplexen Projekten, welche Abteilungs- und Systemgrenzen überschreiten, tun sich unternehmen schwer, nicht wieder die vollen plangetriebenen Methoden unter dem Deckmantel von Agilität einzuführen.
Postagilität bezeichnet eine pragmatische Haltung, die sich kritisch mit den Grenzen klassischer Agilität auseinandersetzt und agile Prinzipien flexibel, kontextbezogen weiterentwickelt. Sie steht für den Mut, starre Frameworks zu verlassen, hybride Methoden zu nutzen und den Fokus stärker auf Kultur, Menschen und spezifische Herausforderungen zu legen.
Ist Postagilität also der logische, notwendige nächste Schritt – oder ein Symptom für das Scheitern der Agilität?
- Weiterdenken: Für viele Unternehmen ist Postagilität eine Befreiung von Dogmen und eine Chance, Agilität authentisch und wirksam zu leben. Henrik Kniberg, Agile-Coach und Autor, fasst es treffend zusammen:
„Agilität bedeutet nicht, stur Regeln zu folgen, sondern die Freiheit zu haben, das Richtige für das eigene Team und den Kontext zu tun.“ - Scheitern: Kritiker sehen in Postagilität oft eine Verflachung oder das Abweichen vom ursprünglichen agilen Manifest – sie fürchten, dass Unternehmen schlicht „kein agiles Vorgehen“ praktizieren, sondern in alten Mustern verharren.
In der Praxis zeigt sich, dass Postagilität vor allem in komplexen, regulierten Umfeldern ein pragmatischer Ansatz ist, um Agilität mit Compliance und Struktur zu verbinden.
Im deutschsprachigen Raum, besonders in großen Konzernen und dem Mittelstand, wurde Agilität häufig spät eingeführt. Traditionelle Werte wie Sicherheit, Kontrolle und Hierarchie stehen manchmal im Konflikt mit agilen Werten. Deshalb wird hier Postagilität zunehmend als notwendige Anpassung gesehen:
- Hybride Modelle kombinieren agile Praktiken mit klassischen Projektmanagement-Ansätzen.
- Flexible Prozessgestaltung erlaubt Teams, Scrum-Regeln pragmatisch zu modifizieren.
- Kulturwandel und Führungskräfteentwicklung sind zentrale Hebel für nachhaltige Agilität.
Zumindest in der Finanzbranche erschweren umfangreiche Regulierungen wie BaFin, MiFID II oder Basel III die Umsetzung klassischer Agilität. Prozesse müssen transparent, dokumentiert und kontrolliert sein – was sich mit agiler Flexibilität oft schwer vereinbaren lässt.
Der Digital Operational Resilience Act (DORA) der EU verschärft diese Anforderungen weiter. Finanzunternehmen müssen IT-Risiken systematisch managen, Resilienztests durchführen und Drittanbieter streng kontrollieren. Das hat konkrete Auswirkungen auf Vorgehensmodelle:
- Agile Teams müssen Compliance- und Resilienz-Anforderungen aktiv in ihre Arbeitsweisen integrieren.
- Hybride Modelle mit ergänzenden Kontrollmechanismen werden zur Norm.
- Postagilität wird hier zum Schlüssel, um Agilität und regulatorische Pflichten zu verbinden.
Wie erleben Sie die Entwicklung von Agilität in Ihrem Unternehmen? Sehen Sie Postagilität als notwendige Weiterentwicklung oder als Zeichen für das Scheitern klassischer agiler Methoden? Teilen Sie Ihre Erfahrungen und Gedanken – ich freue ich auf Ihre Kommentare und eine spannende Diskussion!